
BLOG/ KOLUMNEN BEITRAG
Wie es dem Menschen Anton gelang, den Schriftsteller Stefan Zweig das Staunen und Bewundern zu lehren?
Anstelle eines Kommentars eine wunderbare und wunderliche Geschichte, die Stefan Zweig notiert hatte, als ihm das Menschenmögliche in seiner schönsten und – ach wie schade – seltensten und Weise widerfuhr. Sie hat auch heute nichts an Aktualität verloren:
Undankbar wäre es, wollte ich den Menschen vergessen, der mich zwei der schwierigsten Dinge des Lebens gelehrt hat: einmal, aus völliger innerer Freiheit heraus sich der stärksten Macht der Welt, der Macht des Geldes nicht unterzuordnen, und dann, unter seinen Mitmenschen zu leben, ohne sich auch nur einen einzigen Feind zu schaffen.
Ich lernte diesen einzigartigen Menschen auf ganz einfache Weise kennen. Eines Nachmittags – ich wohnte damals in einer Kleinstadt – nahm ich meinen Spaniel auf einen Spaziergang mit. Plötzlich begann der Hund sich recht merkwürdig zu gebärden. Er wälzte sich am Boden, scheuerte sich an den Bäumen und jaulte und knurrte dabei fortwährend.
Noch ganz verwundert darüber, was er nur haben könne, gewahrte ich, daß jemand neben mir ging – ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, ärmlich gekleidet und ohne Kragen und Hut. Ein Bettler, dachte ich und war schon dabei, in die Tasche zu greifen. Aber der Fremde lächelte mich ganz ruhig mit seinen klaren blauen Augen an wie ein alter Bekannter.
»Dem armen Tier fehlt was«, sagte er und zeigte auf den Hund. »Komm mal her, wir werden das gleich haben.«
Dabei duzte er mich, als wären wir gute Freunde; aus seinem Wesen sprach eine solch warmherzige Freundlichkeit, daß ich gar keinen Anstoß an dieser Vertraulichkeit nahm. Ich folgte ihm zu einer Bank und setzte mich neben ihn. Er rief den Hund mit einem scharfen Pfiff heran.
Und nun kommt das Merkwürdigste: mein Kaspar, sonst Fremden gegenüber äußerst mißtrauisch, kam heran und legte gehorsam seinen Kopf auf die Knie des Unbekannten. Der machte sich daran, mit seinen langen empfindsamen Fingern das Fell des Hundes zu untersuchen. Endlich ließ er ein befriedigtes »Aha« hören und nahm dann eine anscheinend recht schmerzhafte Operation vor, denn Kaspar jaulte mehrmals auf. Trotzdem machte er keine Miene wegzulaufen. Plötzlich ließ ihn der Mann wieder frei.
»Da haben wir’s«, meinte er lachend und hielt etwas in die Höhe. »Nun kannst du wieder springen, Hundchen.« Während sich der Hund davonmachte, erhob sich der Fremde, sagte mit einem Kopfnicken »Grüß Gott« und ging seines Wegs. Er entfernte sich so rasch, daß ich nicht einmal daran denken konnte, ihm für seine Bemühung etwas zu geben, geschweige denn mich bedankte. Mit der gleichen selbstverständlichen Bestimmtheit, mit der er aufgetaucht war, verschwand er wieder.
Zu Hause angelangt, mußte ich noch immer an das seltsame Gehaben des Mannes denken und berichtete meiner alten Köchin von der Begegnung.
»Das war der Anton«, sagte sie. »Der hat ein Auge für solche Sachen.«
Ich fragte sie, was der Mann von Beruf sei und was er treibe, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Als sei meine Frage so erstaunlich, antwortete sie:
»Gar nichts. Einen Beruf? Was sollte er auch mit einem Beruf?«
»Na, schön und gut«, meinte ich, »aber schließlich muß doch jeder von irgend einer Beschäftigung leben?«
»Der Anton nicht«, sagte sie. »Dem gibt jeder von sich aus, was er nötig hat. Dem ist Geld ganz gleichgültig. Das braucht der gar nicht.«
Tatsächlich ein seltsamer Fall. In dieser kleinen Stadt, wie in jeder anderen kleinen Stadt auf der Welt, mußte man jedes Stück Brot und jedes Glas Bier mit Geld bezahlen. Man mußte sein Nachtquartier bezahlen und seine Kleidung. Wie brachte es dieser unscheinbare Mann in seinen abgerissenen Hosen fertig, ein so festgefügtes Gesetz zu umgehen und glücklich, frei von Sorgen dahinzuleben?
Ich beschloß, hinter das Geheimnis seines Tuns zu kommen und stellte dabei sehr bald fest, daß meine Köchin recht gehabt hatte. Dieser Anton hatte wirklich keine bestimmte Beschäftigung. Er begnügte sich damit, von früh bis abend in der Stadt herumzuschlendern – scheinbar ziellos –, aber mit seinen wachen Augen beobachtete er alles. So hielt er den Kutscher eines Wagens an und machte ihn darauf aufmerksam, daß sein Pferd schlecht angeschirrt sei. Oder er bemerkte, daß ein Pfosten in einem Zaun morsch geworden war. Dann rief er den Besitzer und riet ihm, den Zaun ausbessern zu lassen. Meistens übertrug man ihm dann die Arbeit, denn man wußte, daß er niemals aus Habgier Ratschläge erteilte, sondern aus aufrichtiger Freundlichkeit.
An wie vieler Leute Arbeit habe ich ihn nicht Hand anlegen sehen! Einmal fand ich ihn in einem Schusterladen Schuhe ausbessern, ein andermal als Aushilfskellner bei einer Gesellschaft, wieder ein andermal führte er Kinder spazieren. Und ich entdeckte, daß alle Leute sich in Notfällen an Anton wandten. Ja, eines Tages sah ich ihn auf dem Markt unter den Marktweibern sitzen und Äpfel verkaufen und erfuhr, daß die Eigentümerin des Standes im Kindbett lag und ihn gebeten hatte, sie zu vertreten.
Es gibt sicher in allen Städten viele Leute, die jede Arbeit verrichten. Das Einzigartige bei Anton aber war, daß er sich, wie hart seine Arbeit auch war, immer ganz entschieden weigerte, mehr Geld anzunehmen, als er für einen Tag brauchte. Und wenn es ihm gerade gut ging, dann nahm er überhaupt keine Bezahlung an.
»Ich sehe Sie schon noch mal wieder«, sagte er, »wenn ich wirklich was brauchen sollte.«
Mir wurde bald klar, daß der merkwürdige kleine Mann, diensteifrig und zerlumpt wie er war, für sich selbst ein ganz neues Wirtschaftssystem erfunden hatte. Er rechnete auf die Anständigkeit seiner Mitmenschen. Anstatt Geld auf die Sparkasse zu legen, zog er es vor, sich bei seiner Umwelt ein Guthaben moralischer Verpflichtungen zu schaffen. Er hatte ein kleines Vermögen in sozusagen unsichtbaren Krediten angelegt. Und selbst den kaltherzigsten Menschen war es nicht möglich, sich dem Gefühl der Verpflichtung gegenüber einem Manne zu entziehen, der ihnen seine Dienste wie eine freundliche Gunst erwies, ohne dafür jemals Bezahlung zu fordern.
Man brauchte Anton nur auf der Straße zu sehen, um zu erkennen, auf welch besondere Art man ihn schätzte. Alle Welt grüßte ihn herzlich, jedermann gab ihm die Hand. Der einfache freimütige Mann in seinem schäbigen Anzug wandelte durch die Stadt wie ein Grundeigentümer, der mit großzügigem und freundlichem Wesen seine Besitzungen überwacht. Alle Türen standen ihm offen, und er konnte sich an jedem Tisch niederlassen, alles stand zu seiner Verfügung. Nie habe ich so gut begriffen, welche Macht ein Mensch ausüben kann, der nicht für morgen sorgt, sondern einfach auf Gott vertraut.
Ich muß ehrlich gestehen, daß es mich zuerst ärgerte, wenn der Anton nach der Sache mit meinem Hunde mich nur im Vorbeigehen mit einem kleinen Kopfnicken grüßte, als wäre ich ein beliebiger Fremder für ihn. Offensichtlich wünschte er keinen Dank für seinen kleinen Dienst. Ich aber fühlte mich durch diese höfliche Unbefangenheit aus einer großen und freundschaftlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Als nun eine Reparatur im Hause zu machen war – aus einer undichten Dachrinne tropfte Wasser –, veranlaßte ich meine Köchin, Anton holen zu lassen.
»Den kann man nicht einfach holen. Er hält sich nie lange am gleichen Ort auf. Aber ich kann ihn benachrichtigen.« Das war ihre Antwort.
So erfuhr ich, daß dies sonderbare Menschenwesen gar kein Zuhause hatte. Trotzdem war nichts leichter als ihn zu erreichen, eine Art drahtlose Telegraphie schien ihn mit der ganzen Stadt zu verbinden. Man konnte dem ersten Besten, den man traf, sagen: »Ich könnte jetzt den Anton gut brauchen.« Die Bestellung lief dann von Mund zu Mund, bis ihn zufällig jemand traf. Tatsächlich kam er auch noch am selben Nachmittag zu mir. Er ließ seinen prüfenden Blick rundherum gehen, meinte beim Gang durch den Garten, daß hier eine Hecke gestutzt werden müsse und dort ein junger Baum das Umpflanzen nötig hätte. Endlich sah er sich die Dachrinne an und machte sich an die Arbeit.
Zwei Stunden später erklärte er, nun sei die Sache in Ordnung und ging weg – wieder bevor ich ihm danken konnte. Aber diesmal hatte ich wenigstens die Köchin beauftragt, ihn anständig zu bezahlen. So erkundigte ich mich, ob Anton zufrieden gewesen sei.
»Aber natürlich«, gab sie zur Antwort, »der ist immer zufrieden. Ich wollte ihm sechs Schilling geben, aber er nahm nur zwei. Damit käme er für heute und morgen gut aus. Aber, wenn der Herr Doktor vielleicht einen alten Mantel für ihn übrig hätte – meinte er.«
Ich kann nur schwer mein Vergnügen beschreiben, diesem Mann – übrigens dem ersten Menschen in meiner Bekanntschaft, der weniger nahm, als man ihm anbot – einen Wunsch erfüllen zu können. Ich rannte ihm nach.
»Anton, Anton«, rief ich den Abhang hinunter,! »ich habe einen Mantel für dich!«
Wieder begegneten meine Augen seinem leuchtenden ruhigen Blick. Er war nicht im geringsten erstaunt, daß ich hinter ihm hergelaufen kam. Es war für ihn nur natürlich, daß ein Mensch, der einen überzähligen Mantel besaß, ihn einem andern schenkte, der ihn bitter nötig hatte.
Meine Köchin mußte nun alle meine alten Sachen heraussuchen. Anton sah den Haufen durch, nahm sich dann einen Mantel heraus, probierte ihn an und sagte ganz ruhig: »Der hier wäre recht für mich!«
Er hatte das mit der Miene eines Herrn gesagt, der in einem Geschäft aus vorgelegten Waren seine Auswahl trifft. Dann warf er noch einen Blick auf die anderen Kleidungsstücke.
»Diese Schuhe könntest du dem Fritz in der Salsergasse schenken, der braucht nötig ein Paar! Und die Hemden da dem Joseph aus der Hauptstraße, die könnte er sich richten. Wenn’s dir recht ist, bringe ich die Sachen für dich hin.«
Dies brachte er im hochherzigen Tone eines Menschen vor, der einem eine spontane Gunst erweist. Ich hatte das Gefühl, ihm dafür danken zu müssen, daß er meine Sachen an Leute verteilen wollte, die ich überhaupt nicht kannte. Er packte Schuhe und Hemden zusammen und fügte hinzu:
»Du bist wirklich ein anständiger Kerl, das alles so wegzuschenken!« Und er verschwand.
Tatsächlich hat mir aber niemals eine lobende Kritik über eins meiner Bücher so viel Freude gemacht wie dies schlichte Kompliment. Ich habe in späteren Jahren noch oft voll Dankbarkeit an Anton denken müssen, denn kaum jemand hat mir so viel moralische Hilfe geleistet. Häufig, wenn ich mich über kleine Geldscherereien aufregte, habe ich mich an diesen Mann erinnert, der ruhig und vertrauensvoll in den Tag hineinlebte, weil er nie mehr wollte, als was für einen Tag reichte. Immer führte mich das zu der gleichen Überlegung: Wenn alle Welt sich gegenseitig vertrauen würde, gäbe es keine Polizei, keine Gerichte, keine Gefängnisse und … kein Geld. Wäre es nicht vielleicht besser um unser kompliziertes Wirtschaftsleben bestellt, wenn alle lebten wie dieser Mensch, der sich immer ganz und gar einsetzte und doch nur annahm, was er unbedingt brauchte?
Viele Jahre habe ich nichts mehr von Anton gehört. Aber ich kann mir kaum jemand vorstellen, um den es einem weniger bange zu sein braucht: er wird niemals von Gott verlassen werden und, was viel seltener ist, auch niemals von den Menschen.
Precisely what I was looking for, thanks for putting up.